WOHER DIE BILDER KOMMEN

GEDANKEN ÜBER KUNST UND MEDITATION

von

Hans Haffenrichter

Herausgegeben von der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker) 1976

 

Ein Gleichnis von Tschuang Tse, das uns Martin Buber verdeutscht hat, gibt ein gutes Beispiel über das Geheimnis im künstlerischen Schaffen. Ich will damit beginnen. - In seiner Rede, „Der Glockenspielständer", sagt er: „Khing, der Meister der Holzarbeiter, schnitzte einen Glockenspielständer. Als es vollendet war, erschien das Werk allen, die es sahen, als sei es von Geistern geschaffen. Der Fürst von Lu fragte den Meister: „Welches ist die­ses Geheimnis in Deiner Kunst?" - „Dein Untertan ist nur ein Handwerker", antwortete Khing, „was für Geheimnis könnte er besitzen? Und doch ist da etwas. Als ich daran ging, den Glockenspielstän­der zu machen, hütete ich mich vor jeder Minde­rung meiner Lebenskraft. Ich sammelte mich, um meinen Geist zur unbedingten Ruhe zu bringen. Nach drei Tagen hatte ich allen Lohn, den ich er­werben könnte, vergessen. Nach fünf Tagen hatte ich allen Ruhm, den ich erwerben könnte, verges­sen. Nach sieben Tagen hatte ich meine Glieder und meine Gestalt vergessen. Auch der Gedanke an Deinen Hof, für den ich arbeiten sollte, war ge­schwunden. Da sammelte ich meine Kunst, von keinem Außen mehr gestört. Nun ging ich in den Hochwald. Ich sah die Formen der Bäume an. Als ich einen erblickte, der die rechte Form hatte, er­schien mir der Glockenspielständer, und ich ging ans Werk. Hätte ich diesen Baum nicht gefunden, ich hätte die Arbeit lassen müssen. Meine him­melsgeborene Art und die himmelsgeborene Art des Baumes sammelten sich darauf. Was hier Gei­stern beigemessen wurde, ist darin allein gegründet."

 

Der deutsche Maler Caspar David Friedrich hat es auf seine Weise gesagt: „Schließe Dein leibliches Auge, damit Du mit dem geistigen Auge zuerst sie-hest Dein Bild. Dann fördere zutage, was Du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf Andere von außen nach innen." -Wo also kommen die Bil­der her? Das zu wissen, würde uns die Wege zur Kunst deutlicher machen können.

Wenn wir von Bildern sprechen, dann ist ihr Ur­sprung vielfältiger Art. Es können Erscheinungen sein, es können Träume sein, es können Visionen sein. Ja, es können auch Abbilder sein oder deko­rative Bilder. Dieses Gebilde, das wir auch Gestaltung nennen, das eine Komposition sein kann -wo kommen diese Bilder her?

Von Kindheit an war mir das Malen und Zeichnen selbstverständlich. Immer, wenn ich etwas Schö­nes sah, hatte ich versucht, es in einem Bild festzu­halten, wie man sagt. Ja, auch später noch habe ich oft wochenlang Naturstudien getrieben. Dann waren es Blumen, Blüten, Bäume, Berge. Vor allen Dingen aber auch brachte mich genaueres Hinse­hen dazu, zu verfolgen, wie eine Pflanze, wie eine Knospe von Tag zu Tag sich entwickelt, sich entfal­tet - und so entstanden ganze Serien von Bildern, die eigentlich schon hinführten auf das Thema: die Entfaltung einer Pflanze zu einer Blüte.

Diese naive Art, zu malen, habe ich lange beibehal­ten, auch, als ich einem anderen Beruf nachging -bis ich dann eines Tages in den Sommerferien 1919 in München fast durch Zufall vor den wunderbaren Isenheimer Altar geführt wurde. Dieser Altar war während des 1. Weltkrieges in München sicherge­stellt vor Angriff, Bomben und anderem und sollte nun, nach Ende des Krieges, nach Colmar zurück­gegeben werden. Diese Altarbilder, von dieser er­schütternden, großen Kraft, haben mich so tief be­wegt, daß ich nun wußte: ich muß malen - ich muß gestalten - ich muß, statt eines praktischen Beru­fes, den künstlerischen Beruf wählen.

Ich hatte das Glück, daß in meiner Vaterstadt ein älterer Künstler, Peter Würth, meine Aufgabe er­kannte und mir große Hilfe leistete, indem er mir das eigentliche Handwerk des Malens bis in die einfachen Grundvoraussetzungen hinein bei­brachte. Ohne dieses Handwerk, das ich dann 50 Jahre fortsetzte, um immer auf neuen Wegen die Geheimnisse der Farben und ihre Verwendung, bzw. Anwendung, im Kunstwerk zu studieren, zu üben und letztlich so in das Innere des Malens vom Handwerk her einzudringen, wäre ich nur ein sehr unvollständiger Künstler geworden.

Das Malen ist ein wundervolles und erregendes Tun; die Farben sind nicht nur schön, sie enthalten wesentliche Wirkungen und Kräfte in hochdifferen­zierten Schwingungen, auf die die menschliche Seele antworten kann. Sie sind voller Geheim­nisse. Nur im Regenbogen und im Spektrum er­scheinen uns die Farben ganz rein. Der Reichtum der Farben und Variationen und Formmöglichkei­ten in den Erscheinungen in der Natur ist unermeß­lich. Die einfache Malweise kann jedes Kind und jeder Laie mit Gewinn üben; die Beherrschung in den vielen Techniken ganz zu genießen, ganz zu gewinnen, ist ebenso langwierig wie das Erringen der Meisterschaft über irgendein Musikinstru­ment.

Eines Tages wurde mir klar, daß das Malen mehr ei­nem persönlichen Ausdruck nahekommt, als es mir vorher bewußt war. Persönlich - d.h. daß also ähnlich wie bei der Dichtung oder in der Musik eine unmittelbare Verbindung zwischen dem, was im Menschen, der malt, vorgeht, und dem, was im Bild dann erscheint, zu finden ist.

Ich war damals auf Burg Lauenstein gelandet -wie man sagt - auf einer meiner vielen Kunstrei­sen, Lehrreisen, Wanderreisen - so könnte man sie auch nennen. In dem Kreise von Wilhelm Uhde fand ich sehr viel Förderung für die neuen Ansätze in meiner Malerei. Ich malte damals nur Aquarelle, und nur in ganz kleinen Formaten, -en miniature, wie man es nennt - von 10 cm Höhe - vielleicht bis zur Postkartengröße. Da­bei ging mir auf, daß alles, was mich bewegte, was ich erlebt hatte - sei es im Krieg, sei es in der Freundschaft, sei es in der Liebe, sich in ein­fachster Weise in der Malerei niederschlagen kann, sich äußern kann, als echte Expression. Ich nannte damals diese kleinen Bilder „Tagebuchblätter" und habe auch später diesen Begriff für viele meiner Bilder beibehalten, wenn sie aus solchem Erleben heraus entstanden sind. - Dabei fällt mir ein, daß eines Tages, als ich dort oben auf Burg Lauenstein in meinem Turmzimmer saß, ich Besuch bekam von einem Professor aus Jena, der sich meine Bilder ansah und fragte: „Junger Mann   wie kommen Sie zu diesen Bildern?" Also - unsere Frage wieder. Ich hatte Glück, daß in diesem Augenblick vor meinem Turmfenster oben ein Vogel zu singen anfing, und ich antwortete keck: „Herr Professor, können Sie mir sagen, warum dieser Vogel singt? So ist mir zumute, wenn ich meine Bilder male."

Viele Menschen haben mich so gefragt, vielen Menschen ist die abstrakte Malerei ein Rätsel. Sie fragen: „Wie soll ich das verstehen? Was soll das bedeuten?" Nun, solches Fragen führt am Sinn dieser Werke vorbei. Es führt vielleicht zu einem analytischen Verstehen und ruft den Ver­stand auf. Er kann aber das Geheimnis selber nicht klären. Reine Farbe und Form in ihrer viel­fältigen Weise kommen aus einem tieferen ele­mentaren Bewußtsein, so, wie die Töne und die Melodien bei einem Musiker. Die elementare Wirkung der Farbe und ihre Wirkung auf die mit­schwingenden Sinne bewegen unsere Seele in einer besonderen, charakteristischen Weise -entsprechend ihrem inneren Gehalt. Statt einer rationalistischen Erklärung, die zwar eine inter­essante Beschreibung ergibt, führt eine mit­schwingende Einfühlung zu einem sinnvolleren Mitvollzug an der Malerei. Sie führt zu einem elementaren Kontakt, mehr oder weniger ver­wandt dem Entstehen dieser Malerei.

Die Freiheit, die diese Bilder dem Betrachter las­sen, weil das Wort nicht zureicht, sie zu beschreiben und zu deuten, ergibt natürlich ein ganz individuelles Verhalten für den Betrachter. - Ein bekannter englischer Kunstwissenschaft­ler nahm einmal dazu Stellung, zu der Frage der eindeutigen Aussage in diesen Bildern, und fand, daß das gerade der große Gewinn dieser Bilder sei, daß sie den Betrachter frei entschei­den lassen, sie auf seine eigene Weise aufzunehmen. Er nannte das die Assoziations-Frei-heit für den einzelnen Betrachter. Solche Male­rei ist es, die wir als expressionistische Kunst kennengelernt hatten, wie sie bei Franz Marc, bei Paul Klee, bei Kandinsky, bei Feininger zum Ausdruck kommt. - Der große Vorkämpfer für diese Malerei sagte schon vor vielen Jahren, Herbert Waiden nämlich, daß die expressionisti­sche Malerei die Aufgabe habe, neue Vorstellun­gen im Menschen zu wecken, neue Ausdrucksweisen zu finden, damit der Mensch durch diese inneren Bilder sich entwickeln könne.

Unser amerikanischer Freund Douglas Steere berichtete uns einmal von einem Meeting John Woolman's mit Indianern. Da sagte nach einer Stille der alte Indianer-Häuptling: „l love to feel, where words come from" - wo die Worte her­kommen. So sind wir also wieder bei unserer Frage: Wo kommen diese freien, inneren Bilder her? Sind sie nur ein Spiel künstlerischer Fanta­sie oder sind sie Lieder ohne Worte?

Philipp Dessauer hat uns in seinem Büchlein über die naturale Meditation darauf hingewie­sen, daß solche Bilder - ähnlich wie bei den al­ten Chinesen oder wie bei den mittelalterlichen Malern - nur auf Grund einer meditativen Hal­tung entstehen können, wenn sie für den Betrachter, wie für den Maler, sinnvolle Wirkung haben sollen. Heidegger, der deutsche Philo­soph, machte einmal Ausführungen über die Bedeutung des Wortes „schöpferisch", und zwar sagt er, „Es handele sich nicht um Schöp­fung, sondern es müsse so verstanden werden, daß hier aus inneren Quellen geschöpft werde." So dürfen wir also auch mit Caspar David Friedrich wohl sagen: „Die Quelle dieser Kunst ist unser Herz".

Mein Miograph, Rolf Linnenkamp, hat in einer ausführlichen Broschüre über meine Malerei gesagt, man könne diese Malerei einen imagi­nären Realismus nennen.

Ich finde diese Deutung wegweisend. Sie führt weg davon, daß solche Bilder aus Willkür oder nur aus dem Spiel der Phantasie entstehen. „Imaginärer Realismus" - das ist zu deutsch:

„Innere Wirklichkeit". Vielleicht finden wir auf dieser Spur, wenn auch selten, die tiefere Be­deutung des Ausdrucks in solchen Bildern. Mir scheint, daß es hier um die Entdeckung der in­neren Natur des Menschen geht - nicht im Sinne physiologischer Prozesse, sondern um einen inneren Kosmos, also um ein Geistiges. Wenn man der Frage nun weiter nachgeht, wie kommen solche Bilder in uns zustande, wie ent­stehen solche Impulse, dann muß man daran denken, wieviel Anregung uns durch das Leben selber, durch das Leben in der Natur, durch die Begegnung mit den Menschen und Tieren, mit den Pflanzen, ja, mit allem, was uns nahegeht, in unseren geistigen Kosmos eindringt. Ich glaube, daß unsere Seele viele Impulse aufbe­wahrt und daß das Geheimnis, wie solche Impulse sich dann im Bild realisieren, nicht zu lö­sen ist. Man kann nur glauben, man kann einen Weg gehen, man kann nur ernsthaft im Bilde, wie im Leben, nach einer klaren, inneren Sicht suchen.

Der Weg dazu fängt bereits mit den intensiven Naturstudien an, die fast jeder Malersein Leben lang betreibt. Er muß immer aufs neue interes­siert sein, zu immer eindringlicherem Schauen gelangen. Ich nenne die Entfaltung und das Blü­hen der Pflanzen, das Leuchten der Kristalle und ihr Wachstum, ich nenne die Begegnung mit den brüderlichen Tieren und mit unserem Nächsten, aber auch z.B. die Glorie des farbi­gen Himmels am Morgen und am Abend. So er­schließt sich die Welt, um uns anders als durch die Farb-Fotografie z. B., sie erschließt sich in ihrem ganzen Reichtum an Schwingung, die, im Bilde gestaltet, somit seelisch erfahren und geistig durchstrahlt wird.

So kann die „imaginäre Realität", oder wie wir sagen könnten: die „innere Wirklichkeit" - im Bilde erscheinen: als Transparenz und als Trans­zendenz im Bilde.

Nach diesen Überlegungen über die grundsätzliche Bedeutung der Kunst und der Malerei im besonderen, möchte ich einmal darlegen, wel­chen Weg ich selber die vielen Jahre genommen habe. Es zeichnet sich hier zuerst eine Phase ab, in der ich zur ausdrucksstarken Expression der Malerei kam. Nach dem 1. Weltkrieg, an dem ich sehr jung teilnehmen mußte, war ich stark beeindruckt durch Rainer Maria Rilke und Martin Buber. Das führte zu einer neuen Orientierung im Bewußtsein. Daneben begegneten mir die Schriften des Meisters Eckehard. Auch sie haben wesentlich zur Klärung meiner eigenen Haltung beigetragen. In den Schriften von Martin Buber, besonders in sei­nem Buch „Ich und Du" über die menschlichen Beziehungen, fanden meine eigenen Gedanken einen starken Gleichklang.

Wie ich schon erzählte, fiel auch in diese Zeit das Erlebnis des Isenheimer Altars, das meinem Weg einen ganz neuen Impuls gab. Der Wunsch, Maler zu werden, wurde nun zu einem inneren, unbedingten Auftrag.

Die 2. Phase, würde ich sagen, war dann be­stimmt durch mein Studium am Bauhaus, wo­bei die wichtigsten persönlichen Begegnungen mit meinem Lehrer Lothar Schreyer, mit Paul Klee, mit Oskar Schlemmer, mit Wassily Kandinsky, mit Georg Muche, mit Lyonel Feininger von besonderer Bedeutung waren. Dazu kam eine eigenartige Einführung in das Wesen der Farbe an sich durch Meditationen bei unserer Meisterin Gertrud Grunow.

Als 3. Phase formte sich ein neues Thema, als innerer Auftrag. Nach den Erlebnissen des Bauhauses und seiner Ideen und dem Studium der Metamorphosen-Lehre von Goethe bewegte es mich, das Thema, die Genesis, also die Schöpfungsgeschichte, mit neuen Mitteln zu gestal­ten. Die Frage nach dem Ursprung wurde zen­trales Thema. Schon früher hatte ich eine Reihe von Bildern gemalt, die ich „Geburt der Blume" nannte; eine zweite Reihe „Die Kosmogonie der Pflanzen". Einige Jahre später entstand dann die Idee, einmal das Leben einer Pflanze in allen ihren vielen Stadien darzustellen, und zwar wählte ich das Leben der Roggenpflanze. In dieser Arbeit wurde ich unterstützt von einem sehr guten Biologen, der mir die Geheimnisse des Wachstums, der Assimilation und der Be­fruchtung auch geistig nahebrachte.

Die 4. Phase führte mich über dieWelt der Pflanzen weiter in die Welt der Kristalle und der kr­stallinen Strukturen, der Strukturen von Steinen und Metallen. Die Chemie und die Physik boten mir Einblick in das Wesen der Stoffe und der Stoffverwandlung. Glücklicherweise kamen nun auch Aufträge von auswärts, die mich mit diesen Dingen näher befassen ließen. Die Che­mische Industrie hatte mich beauftragt, Stoff­verwandlungen, Synthese von Stoffen, katalyti-sche Weise der Entstehung, z. B. der Hydrie­rung von Benzin und ähnlichen Themen grafisch darzustellen. Danach folgte ein wichtiger Auftrag der Forschung, nämlich, die Atome und Moleküle nach Vorstellungen der Wissenschaftler ebenfalls grafisch darzustellen. Damals gab es noch nicht die Fotografie der im Feldelektronenmikroskop gewonnenen Bilder, so daß nur die Vorstellungen der Wissenschaftler allein und meine Vorstellungsmöglichkeiten zu Bildern führen konnten. Es war also auch eine Art von Meditation nötig und es hat Wochen gedauert, bis die ersten Bilder von dieser geheimnisvollen Welt entstehen konnten.

Auch andere Industrieaufträge, z. B. für die Elektrizitätswirtschaft, gaben mir interessante Anre­gungen, so etwa, das Wesen der Elektrizität im

Bild zur Darstellung zu bringen. Einige große Mosaiken in Kraftwerken sind daraus entstan­den. Dabei war es auch wieder mehr das dynamische Element, das hier zum Ausdruck kom­men mußte, z. B. bei einem großen Glasfenster über die Umwandlung des fallenden Wassers in elektrische Energie bei Pumpspeicherwerken, wie dies in Hamburg-Geesthacht an den Wän­den zu sehen ist.

Es ist vielleicht wichtig, zur Erläuterung einige Erlebnisse nachzutragen. Als ich damals diese Bilder von Atomen und Molekülen schaffen durfte, die aus einem Team von Wissenschaftlern und mir entstanden sind, also in einer ge­meinsamen Arbeit, war es mir klar, daß vieles nur durch Intuition gefunden werden konnte. In­teressanterweise sagten mir die Wissenschaftler: „Es hat keinen Zweck, daß Sie selbst zuerst Atomphysik studieren oder daß Sie unsere Vor­lesungen anhören, denn dann können Sie nicht mehr malen." Vielleicht interessant, weil dieses zeigt, wie intensiv hier ein intuitives, ein geistiges Mitarbeiten notwendig war, daß aus dem Gespräch mit den Wissenschaftlern die Bilder überhaupt entstehen konnten.

Ein zweites Erlebnis möchte ich noch anfügen:

5 Jahre später wurden zum ersten Mal in der Öf­fentlichkeit die Bilder vom Atom und Molekül, die durch das Feld-Elektronenmikroskop ge­wonnen waren, gezeigt. Und diese Bilder, die nun mit einem neuen exakten wissenschaftlichen Apparat entstanden, entsprachen fast genau den Bildern, die, intuitiv im Gespräch entwickelt, zwischen Wissenschaftlern und einem Maler, entstanden sind.

Die Aufträge der Wissenschaft und der Technik führten zu wichtigen Begegnungen mit führen­den Forschern und leitenden Ingenieuren, die mir nicht nur viele Anregungen und Hilfen für meine Arbeit brachten, sondern diese Männer zu Freunden meiner abstrakten, ungegenständlichen Malerei machten. Ich bin mir dessen dankbar bewußt, weil sie mir halfen, im Bewußtsein der großen, wundervollen sichtbaren und der unsichtbaren Wirklichkeit heimischer zu werden.

Ich möchte hier vor allem auch noch darauf hin­weisen, daß mein verstorbener Freund Jean Gebser, der kühne Philosoph und Kultur-Morphotoge, mir durch seine Gedanken und seine Deutungen meiner Bilder - auch meiner freien Bilder - zu meinem Weg und zu der Klarheit über den Sinn meiner Bemühungen entschei­dend geholfen hat. Seine zwei wichtigsten Werke will ich hier nennen: „Abendländische Wandlung" und „Ursprung und Gegenwart".

Die 5. Phase, die nun beginnt, läßt spürbar eine Erweiterung des bisherigen Schaffens erken­nen, denn es führt in Farbe und Form zu unmittelbarer Aussage aus der Tiefe der inneren Na­tur des Menschen. Die Farbe ist jetzt Element der Aussage, im freien Geistbereich musiziert sie das „Wesen" der Natur. Darauf folgen rhyth­mische Intentionen, Improvisationen. Das sind ihre Ausdrucksformen. Daneben entstehen wei­terhin Bilder zu den bisherigen Themen - vor allen Dingen zur Schöpfungsgeschichte, dem Kri­stallbereich oder auch dem Figuralen, den Be­gegnungen im Menschlichen.

6. Phase: In einer weiteren Phase wird nun auf­grund der neuen Freiheit im farbigen Bereich das Meditative und die Transzendenz, das Visio­näre, stärker in den Vordergrund gehoben. Da­bei helfen Gespräche mit Philipp Dessauer, mit Jean Gebser und anderen Freunden zu immer stärkerer Intensivierung.

1965 habe ich in meinem Tagebuch unter dem Stichwort „Terra incognita" über das Wesen und die Wirkung der Farbe folgendes einmal nieder­geschrieben: „Ich male zu meinem Vergnügen und zu dem meiner Freunde. Obwohl ich die Welt immer mehr liebe, je besser ich sie sehen und verstehen lerne, ist es nicht meine Aufgabe, sie abzubilden. Mein Auftrag ist es, etwas ganz Persönliches beizutragen. Ich musiziere in Far­ben mit immer neuen Melodien und Tonarten zu „Seinem Lobe und zu Seiner Glorie."

Manchmal sind meine Bilder Berichte von Ent­deckungsfahrten in unbekannte Regionen un­serer Innenwelt. Oft sind es auch nur kleine Ge­dichte in einer für den Verstand nicht zu begrei­fenden Sinnsprache - die verstehen allerdings meine liebsten Partner und auch die Kinder unmittelbar. Es sind farbige Lieder ohne Worte, einfach fürs Herz.

Der tägliche Umgang mit den Farben und das leidenschaftliche Bemühen, eine ganz be­stimmte Intensität der farbigen Klänge zu finden, ist dem Maler wie ein Exerzitium lebens­lang aufgegeben. Farben haben eine sinnliche und eine geistige Qualität, die meist nur lang­sam nach reicher Erfahrung und vertrautem Umgang mit ihnen und in der Meisterung im Malen erreicht werden kann. Farbe, als Mittel des Ausdrucks und der Gestaltung, hat in der Kunst eine dreifache Bedeutung. Mein Lehrer Lothar Schreyer sagte uns: „Im Wort Kunst, das vom althochdeutschen kunnan kommt, steckt nicht nur das Können, sondern auch das Künden gei­stigen Innehabens. Das gilt besonders für die Malerei."

Jedes Bild muß sich in seiner vielschichtigen Wirksamkeit bewähren:

In der Gestaltung der Oberfläche mit ihren ästhetischen und dynamischen Impulsen, in seinem Bedeutungsgehalt und Sinnbild, in der tiefen Schicht des Innewerdens eines Un­sagbaren und Unbedingten. Wir nennen dieses den supramentalen Auftrag. Meine Arbeit ist nicht nur eine persönliche Liebhaberei, sie ist ein ernster Auftrag. Man kann es eher einen immanenten Forschungsauftrag nennen: Überschreiten der Grenzen des Sichtbaren und Realen, Aufdeckung der inneren Welträume, Ausblicke ins Offene, Auffinden von neuen Wegmarken, Chiffren des Geheimnisvollen in Spuren und Strukturen unseres erweiterten Bewußtseins. Aber auch das feine Gewebe uralter und neuer Traumwirklichkeiten voll zarter Rhythmen darf uns nicht verlorengehen.

Alle diese Aufgaben scheinen mir von großer Wichtigkeit, um das Humane in dieser Welt voll technischer Manipulation und Erstarrung zu sichern, denn „ohne die Kunst degeneriert der Mensch".

Nun wäre noch einiges zu sagen zur gegenwär­tigen Phase, die mich sehr erfüllt mit neuen Bil­dern, die fast alle unter dem Thema: „Sphäre" stehen. Die immer neuen Variationen dieser Reihe „Sphäre" sind Ergebnisse eines gesammelten Eingehens auf das großeThema, das mit „Ursprung" und „Ursprungsnähe" begann und nun über ein Jahr immer aufs neue zum Heben neuer Bilder führte. Sie entstanden also als in­tuitive Wahrnehmung aus dem Grunde des Menschen und in seinen tiefen Dimensionen. Wenn sie glücken, sind sie gleichnishafte Doku­mente der Innenschau und wecken den Sinn für das Kosmische der menschlichen Natur. Dr. Linnenkamp nannte diese Bilder „Imaginären Rea­lismus". Was wie Farben- und Formenspiel anmutet, ist getragen von einer inneren Führung. Diese Bilder spiegeln auch die Erlebnisse der Transzendenz der Kräfte, der wirkenden Kräfte, des inneren Kosmos - oft in Verwandlung - wieder. Sie sind Ausstrahlung der geistigen Quelle, der Intuition.

Wir kommen jetzt zum Eingehen auf die Bedeu­tung der Meditation in diesem künstlerischen Schaffen.

Die Sammlung auf die innere Stille, die Philipp Dessauer uns als so wichtig nannte, verlangt zunächst eine Vormeditation, damit sich die Seele bereit mache für das Öffnen - fast könnte man sagen: für das Öffnen einer dunklen Kammer, die dann voller Licht erstrahlt und die Seele bereit macht. Nun kann die Meditation die Tür öff­nen zu dem transzendentalen Erlebnis. Wenn sich der Maler dem Öffnen ganz hingibt, und da­mit der inneren Wirklichkeit, dann kann es geschehen, „daß ihm eine Verklärung des Hiesi­gen zuteil wird", wie Lyonel Feininger es ausdrückt. Diese neuen Bilder können blitzartig in Farbe und Form aufblühen. Es kann aber auch Stunden und Tage dauern, bis die Durchführung dem inneren Bild entspricht und die gesuchte Reife, die malerische Qualität, gewonnen wird. Ich wiederhole nochmal, was Caspar David Friedrich, der Maler der Romantik, uns hinterließ, als er sagte: „Schließe Dein leibliches Auge, damit Du mit dem geistigen Auge zuerst siehest: Dein Bild. Dann fördere zutage, was Du im Dunkeln gesehen, daß es zurückwirke auf andere von außen nach innen, denn die einzige wahre Quelle der Kunst ist unser Herz."

Auch die Betrachtung solcher Bilder, das unvoreingenommene Aufnehmen, das bewirkt, daß die Bilder selbst zum Sprechen kommen, daß sie uns vielleicht eine Einsicht bringen, oder gar eine Botschaft vermitteln - auch das ist eine Art von Meditation. Natürlich, nicht immer ist die Wirkung solcher Bilder so im tieferen Sinn er­reichbar, sondern das bleibt vielleicht sogar ein seltenes Geschenk.

Es gibt solche Bildqualität auch schon in der al­ten Kunst und immer wieder zu allen Zeiten bis auf den heutigen Tag. Man weiß von mittelalterlichen Malern wie von Fra Angelico, der sich vor dem Malen im Gebet auf seine Aufgabe vorbereitete. Man weiß von heutigen Künstlern, daß sie sich in Zen-Meditationen einstimmen, um in die richtige Disposition für ihrWerk zu kommen. Nun noch einiges zur allgemeinen Situation der Bildenden Kunst heute. Die Wege der moder­nen Künstler sind oft voller Rätsel, für den Laien wie auch für den Fachmann. Viele suchen einen neuen Weg. Sie wollen primitiv sein, weil sie glauben, damit einen neuen Anfang zu finden. Aber primitiv sind nur die wirklich Primitiven, die uns aus ihrem magischen Glauben oft erschüt­ternde Werke schaffen.

Viele heutige Maler haben eben nicht die Zeit zum Warten. Sie haben nicht genügend Geduld, um auf den inneren Anruf, um auf die Impulse für ein neues Bild zu warten. Sie arbeiten genau so hektisch, wie die modischen Dinge heute entstehen. In der Malerei führen einfache Geometrie und die Verfremdung oft zu einem erschreckenden Mangel an malerischem und gei­stigem Gehalt. Dies alles spiegelt natürlich sehr stark unsere heutige Zeit wieder, die wir oft eine heillose Zeit nennen müssen. Da suchen die Maler Sensationen um jeden Preis, sie suchen Originalität - aber selbst Picasso sagt von sich, er suche nicht, er wolle finden. Vielleicht man­gelt es an Künstlern, die genügend offen für die Bereiche sind, auf die es ankommt. Es scheint, als ob sie eher offen sind für sogenannte pri­mitive und rein dekorative Gestaltung. „Oder sie betätigen sich wie in einem Kindergarten für Erwachsene" - so sagte ein Experte sarkastisch. Aber Kunst im eigentlichen Sinne hatte schon immer andere Aufgaben. Natürlich ist das krea­tive Spiel im Kindergarten, sind die elementaren Gestaltungen in der Schule und die künstlerischen Übungen in der Volkshochschule von großer Bedeutung für die Entwicklung der menschlichen Individualität und das Verlangen nach Selbstverwirkl ichung. Hier werden schöpferische Kräfte geweckt, die Bildung der Sinne und die Kraft der Imagination gefunden. Die Erfahrungen im eigenen künstlerischen Tun helfen dem Betrachter von Kunstwerken, auch früherer Zeiten, zu unmittelbaren Kontakten und „Verständnis", nämlich zum Erleben des Sinnes dieser Werke und dieser Zeit.

Es darf in unserer Betrachtung nicht nur um die Malerei gehen. In gleicher oder ähnlicherweise gilt dies alles auch für die anderen künstlerischen Bereiche - die Plastik, das Theater und die Dichtkunst, die Architektur und die Musik.

Die Verinnerlichung der Kunsterlebnisse ist ja dem Musikfreund, dem selber Musizierenden, längst in seinen Tiefendimensionen vertraut. So sollte es uns auch im Bereich der Bilder gelin­gen. - Wie sich die Zeichen der Schrift in unse­rem Geiste umsetzen in Wort-Gedichte, in Infor­mation, in Forderung und Gesetz - so können sich im erfüllten Bild Farbe für Farbe, Linie und Fläche als lebendige Aussagen ablesen lassen - eine Kündung besonderer Art, die aus dem Grunde des Seins, „aus dem Herzen der Dinge" (Paul Klee) kommt. Daher auch die magische und zauberische Kraft mancher kultischer Gebilde, wie in den Ikonen, den Götterbildern und den Totemfigurationen.

Als ich 1924 während eines Studienaufenthal­tes im Quäker-College in Birmingham Mr. Sinha, einem feinsinnigen Inder (Mitarbeiter Mahatma Gandhis) meine abstrakten Aquarelle zeigen durfte, waren meine englischen Freunde, ebenso wie ich selbst, erstaunt, mit welcher Si­cherheit Sinha meine Bilder „las" und deutete. -Später habe ich dieses Eingehen in die Sprache der Bilder oft auch bei ganz einfachen Besu­chern meines Studios erlebt.

Was ist die innerste Wurzel für das Schöne, das Starke und das Tiefe, wie auch das Heiter-Beschwingende in der Kunst?

Das Suchen nach Transzendenz in der Malerei seit Beginn dieses Jahrhunderts geht parallel zu den philosophischen Bemühungen. Es wird nach den beiden Weltkriegen, die so vieles auf­lockerten, immer stärker. Der Aufbruch zu neuen Ufern und neuen Horizonten gibt Wege des Erlebens frei. Die Phänomenologie bei uns, die mystischen Lehren und die Kenntnis der östlichen Weisheitslehre - dazu dann geistige Übungen - spiegeln sich in den Künsten ganz stark wieder. Manchen wurde Meister Ekkehard oder die Lehre der Zen-Meister zu einer Hilfe in der gesuchten geistigen Erneuerung. Auch hier sind es oft gerade die Künstler, die in einer Verfeinerung und Vergeistigung der Mittel und der Themata neuen Auftrieb geben. In gewissem Sinne waren schon in der Jugendbewegung solche inneren Bestrebungen wichtiger als die revolutionären Ideen. Im Wandervogel, wie auch im Bauhaus in Weimar, war ein vitales Stre­ben nach Ursprünglichkeit und Urgrund - oft unbewußt - die tragende Kraft zu einer stärkeren Beziehung zum Elementaren in Natur und Mensch, in Arbeit und Kunst. Dies war auch der eigentlich wichtige Auftrag der „jungen Kunst", des Expressionismus.

Paul Klee, einer unserer Lehrer am Bauhaus, wies auf die große und entscheidende Bedeu­tung der geistigen Konzentration im Malen hin. Er sagte uns: „Die Kunst ist nichts ohne Intui­tion". Ein unvergeßliches Wort! und doch - wie­viel Spiel ist in Klee's Bildern und seinen Gedan­ken! Auch bei Bach und Mozart ist es ähnlich, im Spiel der tief anregenden Variationen und Fugen - und dort wohl am reinsten

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